Starke Schulter in der Kinderwunschzeit: Die psychosoziale Beratung

Bei einem unerfüllten Kinderwunsch können ganz unterschiedliche Ursachen, Motive und Lebenssituationen eine Rolle spielen. Der Kinderwunsch begleitet viele Betroffene über Jahre hinweg, in denen sie sich zum Teil intensiven medizinischen Behandlungen unterziehen und ein Auf und Ab von Hoffnung und Enttäuschung erleben. Diese Zeit erleben viele als große Herausforderung. Manche stoßen dabei auf das Angebot der psychosozialen Beratung. Oft kommen dabei Zweifel auf: Kann eine psychosoziale Beratung mir überhaupt helfen? In diesem Artikel erkläre ich deshalb, was eine psychosoziale Beratung ausmacht und wie sie Ihnen dabei helfen kann, die Kinderwunschzeit mental gestärkt zu bewältigen.

  • Was hat psychosoziale Beratung mit Kinderwunsch zu tun?
  • Was bedeutet der Begriff “psychosozial” eigentlich?
  • Welche Unsicherheiten können vor einer Beratung auftreten?
  • Wie kann eine psychosoziale Kinderwunschberatung helfen?

Was hat psychosoziale Beratung mit Kinderwunsch zu tun?

In den Kinderwunschkliniken stehen oft eher die medizinischen Aspekte der Kinderwunschbehandlung im Vordergrund und es ist meist wenig Zeit, um in Ruhe über Gefühle und Gedanken während der Behandlung zu sprechen. Deshalb wünschen sich viele Betroffene eine Ansprechperson, der sie sich mit ihren Fragen anvertrauen können. Sie wünschen sich eine unabhängige Stelle, in der sie kompetent beraten werden, ohne in eine Richtung gedrängt zu werden. Die meisten Betroffenen setzen sich selbst nämlich schon genug unter Druck, zum Beispiel mit Ernährung oder Behandlungsentscheidungen. Deswegen ist es umso besser, wenn die Beratungsfachkraft sich im Bereich der Kinderwunschbehandlung schon gut auskennt, weil Sie dann nicht jeden Begriff neu erklären müssen. Gerade weil der Kinderwunsch oft auch persönliche Beziehungen belasten kann, zum Beispiel in der Partnerschaft oder der Familie, wünschen sich viele eine außenstehende Ansprechperson, die ihnen erst mal ohne Eigeninteresse einfach nur zuhört.

Einigen Betroffenen wird deshalb eine psychosoziale Beratung empfohlen, in deren Rahmen genau auf dieses Bedürfnis eingegangen werden kann. Viele haben dabei aber zunächst ein mulmiges Gefühl im Bauch: Psychosoziale Beratung – was heißt das denn überhaupt?

Was bedeutet “psychosozial” eigentlich?

Während der Kinderwunschzeit begegnen Ihnen viele neue Begriffe, die anfänglich relativ technisch klingen, weil sie die intensiven Gefühle und Erfahrungen, die Sie gerade erleben, nicht wirklich einfangen. Ähnlich ist es auch mit der psychosozialen Beratung.

Studien zeigen, dass viele Betroffene erst einmal ablehnend reagieren, wenn sie den Begriff “psychosoziale Beratung” hören. Meistens gilt diese Ablehnung aber gar nicht dem Beratungsangebot selbst, sondern den Assoziationen, die der Begriff auslöst. Bei dem Wort “psycho” oder “psychologisch” denken viele zuerst an mentale Angeschlagenheit oder Instabilität. Wir kennen das Wort vor allem aus der Psychotherapie oder Psychiatrie und denken deshalb, dass diese Unterstützung vor allem für Menschen gedacht ist, die psychisch krank sind oder besonders viel Hilfe brauchen. Vielen ist nicht direkt bewusst, dass man auch ohne akute Erkrankung psychologische Unterstützung in Anspruch nehmen kann, um eine schwierige Lebensphase zu meistern. Viele Personen mit Kinderwunsch haben vor ihrer Kinderwunschbehandlung noch nie eine psychosoziale Beratung in Anspruch genommen und wissen daher nicht genau, was sie dort eigentlich erwartet. Deshalb möchte ich das hier noch einmal aufdröseln:

Bei einer Beratung treffen zwei Personen aufeinander – die ratsuchende Person und die beratende Person. In der Beratung wird versucht, die ratsuchende Person anhand eines Gesprächs in Bezug auf ihre Fragen und Probleme zu unterstützen. Es kann zum Beispiel darum gehen, Wissen, Orientierung oder Lösungsansätze zu gewinnen. Der Fokus richtet sich dabei nicht nur auf praktische Probleme, sondern eben auch auf emotionale und mentale Herausforderungen oder soziale Fragen (z.B. Umgang mit Angehörigen). Es muss auch nicht zwangsläufig darum gehen, alle Probleme “zu lösen” oder “zu beheben” - manchmal geht es vielmehr darum, Ihnen zu helfen, sich mit Ihren Herausforderungen zu arrangieren oder einen Weg zu finden, wie Sie damit gut leben können. In Bezug auf die Kinderwunschbehandlung heißt das, dass es hierbei nicht darum geht, eine Schwangerschaft wahrscheinlicher zu machen, sondern darum, Herausforderungen während der Kinderwunschzeit anzuerkennen und zu bewältigen.

Der Begriff “psychosozial” setzt sich zusammen aus “Psyche” und “sozial”. Gemeint ist damit also, dass sowohl individuelle seelische Aspekte (z.B. Stress) als auch soziale zwischenmenschliche Aspekte (z.B. Konflikte in der Partnerschaft) betrachtet werden. Der Mensch wird also nicht als isolierte Insel betrachtet, die nur persönliche Schwierigkeiten hat, sondern als soziales Wesen, das sich in Gruppen bewegt und in ein soziales Netzwerk eingebunden ist – z.B. in die Familie, den Arbeitsplatz oder die Kultur, in der er lebt. Zum Beispiel kann es in einer psychosozialen Beratung darum gehen, dass die eigenen Bedürfnisse manchmal im Widerspruch zu den Erwartungen von anderen stehen. Dann kann die Beratung dabei helfen, die Anforderungen von außen von den eigenen Bedürfnissen zu unterscheiden und herauszufinden, wie man sie miteinander vereinbaren kann. Man versucht also, nicht nur eine Ebene einer Situation zu betrachten (“Welche Sorgen habe ich?”), sondern ihre Vielschichtigkeit anzuerkennen (z.B. “Wie reagieren meine Freundinnen und Freunde auf meine Sorgen?” oder “Was ist anders in der Beziehung zu meinem Partner oder meiner Partnerin, seit wir in der Kinderwunschzeit sind?”).

Mann und Frau mit Kinderwunsch bei psychosozialer Beratung
© iStock/Steve Debenport

Welche Unsicherheiten können vor einer Beratung auftreten?

Das Angebot der psychosozialen Beratung erzeugt oft erstmal Distanz, statt direkt als Möglichkeit zur Unterstützung verstanden zu werden. Für viele unterstellt der Begriff der psychosozialen Beratung den Menschen, die sie in Anspruch nehmen, direkt ein persönliches Problem, z.B. eine psychische Schwäche oder ein soziales Manko. Viele empfinden die Bezeichnung als zu problemfokussiert und sie bevorzugen Bezeichnungen wie “Kinderwunsch-Beratungsstelle”, “Mentale Unterstützung” oder “Kinderwunsch-Coaching”, weil diese sich positiv auf das Thema beziehen, das sie gerade beschäftigt.

Viele denken aufgrund der Schwere des Begriffs auch, es ginge ihnen “nicht schlecht genug”, um eine Beratung anzunehmen. Die Annahme, dass man psychologische Beratung erst in Anspruch nehmen darf, wenn man sehr erschöpft ist, ist weit verbreitet. Dabei sollte eine Beratung idealerweise so ansetzen, dass es gar nicht erst zur völligen Verausgabung kommt. Die Beratung kann Sie dabei unterstützen, Herausforderungen mental gestärkt zu meistern. Deswegen können Sie sich diese Unterstützung auch bereits suchen, wenn Sie vor einer großen Entscheidung stehen oder wenn Sie das Gefühl haben, dass eine intensive Phase auf Sie zukommt.

Letztendlich geht es in der Beratung um Ihre Themen. Viele fragen sich vielleicht: “Wird da jetzt meine ganze Kindheit aufgerollt?” Die Antwort darauf ist: Nein, in der Beratung geht es um das, was Sie aktuell beschäftigt und ansprechen möchten. Sie entscheiden dabei, wo der Fokus des Gesprächs liegt. Es werden keine Baustellen aufgemacht, die Sie gerade nicht bearbeiten möchten. Vielleicht bringen Sie ein konkretes Anliegen mit, das Sie gerne besprechen möchten oder haben Fragen an die Beratungsperson. Vielleicht möchten Sie aber auch erst mal so drauflos erzählen. Die Beratungszeit können Sie selbst mitgestalten.

Insbesondere Männern fällt es oft schwer, psychologische Unterstützung anzunehmen, weil sie damit Verletzbarkeit oder mangelnde Härte verbinden. Manche Männer fühlen sich dadurch in ihrer Männlichkeit infrage gestellt. Dabei ist es ein Zeichen von Stärke, sich genau die Unterstützung für die Kinderwunschreise zu holen, die man gerade braucht, um für sich selbst und andere zu sorgen. Obwohl viele Männer die Nützlichkeit der Beratungsangebote nicht direkt in Frage stellen, gehen sie dennoch häufig davon aus, dass sich diese Angebote in erster Linie an Frauen richten. Vielen Männern fällt es deshalb zum Beispiel leichter, ihre Partnerin zu einem Beratungstermin zu begleiten, statt selbst hinzugehen. Deshalb ist es wichtig zu betonen, dass die Kinderwunschberatung sich an alle Menschen richtet, die mit dem Kinderwunsch in Verbindung stehen. Auch wenn der männliche Partner in der medizinischen Behandlung oftmals weniger körperlich involviert zu sein scheint, ist er doch mental genauso intensiv mit dem Kinderwunsch beschäftigt wie die Partnerin.

Zuletzt können es auch praktische Gründe sein, die der psychosozialen Beratung im Weg stehen: Viele wissen nicht, dass es spezifisch ausgebildete Fachkräfte für Kinderwunschberatung gibt, andere kennen keine Anlaufstellen in ihrer Nähe oder sind sich unsicher, wie viel die Beratung kostet. In vielen Beratungsstellen ist die Beratung sogar kostenlos, zum Beispiel bei Wohlfahrtsverbänden oder Gesundheitszentren. Wenn Sie zu freien Beratern oder Beraterinnen in eine Praxis gehen, müssen Sie die Beratung dagegen selbst bezahlen. Bei der Auswahl des passenden Angebots empfiehlt es sich auch, auf die Professionalität der Beratungsstelle zu achten, beispielsweise ob das Gespräch von zertifizierten Kinderwunschberatern oder Beraterinnen geführt wird. Bundesweite Beratungsangebote finden Sie hier im Informationsportal unter der “Beratungsstellen-Suche”.

Wie kann eine Kinderwunschberatung helfen?

Ob und wo Betroffene Unterstützung suchen und welchen Weg sie zur Erfüllung ihres Wunsches einschlagen, ist sehr unterschiedlich. Idealerweise finden Sie einen Umgang, der zu Ihren Bedürfnissen und Umständen passt. Eine psychosoziale Beratung bietet vielen Personen mit unerfülltem Kinderwunsch genau die Hilfe, die sie sich wünschen: Eine kompetente Stütze, die Orientierungs- und Entscheidungshilfe leisten kann, eine unbeteiligte Perspektive, die neue Möglichkeiten aufzeigt, oder einen Raum, in dem alle Emotionen Platz haben, die während der Behandlung aufkommen können. Sich mit den bestehenden Angeboten vertraut zu machen, ist deshalb zu empfehlen. Es kann auch sinnvoll sein, über die richtigen Anlaufstellen Bescheid zu wissen, ohne dass man direkt vorhat, sie zu nutzen. Dann ist man schon vorbereitet, wenn man auf der Kinderwunschreise doch mal ins Straucheln kommt und weiß dann direkt, wo man sich Hilfe holen kann.

  • In der Kinderwunschzeit wünschen sich viele eine unabhängige Stelle, in der sie kompetent beraten werden, ohne in eine Richtung gedrängt zu werden. Im Rahmen einer psychosozialen Beratung können Wissen, Orientierung und Lösungsansätze - auch für emotionale Themen - gewonnen werden.
  • Obwohl viele Betroffene ein Beratungsangebot grundsätzlich gut finden, reagieren manche aufgrund ihrer Assoziationen mit dem Begriff “psychosoziale Beratung” erst mal ablehnend.
  • “Psychosozial” bedeutet, dass sowohl die individuelle Ebene (“Wie geht es mir?”), als auch die soziale Ebene (“Wie reagiert mein Umfeld?”) einer Situation betrachtet werden.
  • Kinderwunschberatungsstellen richten sich an alle, die in eine Kinderwunschbehandlung involviert sind und sich eine Stütze für diese herausfordernde Zeit wünschen.

Um eine psychosoziale Beratung in Anspruch zu nehmen, müssen Sie nicht bereits vollkommen verausgabt sein – es kann auch vorher schon guttun, mit einer außenstehenden Person über die Herausforderungen der Kinderwunschzeit zu sprechen. Anders als in der restlichen Kinderwunschbehandlung stehen die medizinischen Aspekte nicht im Vordergrund und die Erfüllung es Kinderwunsches ist nicht das einzige Ziel. Hier geht es explizit darum, wie es Ihnen in dieser Lebensphase geht, und wie Ihnen der Umgang mit Ihren Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten erleichtert werden kann.

Quellen: https://www.informationsportal-kinderwunsch.de/resource/blob/161026/47c4e1b673a616f7c8550f4053509f84/ungewollte-kinderlosigkeit-2020-barrierefrei--data.pdf

Thivissen, Jan G. Psychosoziale Beratung: Zwischen psychotherapeutischen Grundideen und eigenen Entwicklungen, Diplomica Verlag, 2015.ProQuest Ebook Central, https://ebookcentral.proquest.com/lib/senc/detail.action?docID=4340671.

Autorin: Sally Schulze 

Sally Schulze ist Diplom-Psychologin, approbierte Psychotherapeutin und zertifizierte BKiD-Kinderwunschberaterin.